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Braucht der Cyberspace eine Regierung?

Hans-Georg Stork1


> Bemerkungen und Verweise

Abstrakt: Der vorliegende Aufsatz präsentiert einige europäische Antworten auf die Titelfrage und einschlägige Reflexionen im Kontext der aktuellen Veränderungen und Charakteristika der globalen Kommunikationslandschaft.

Superlative werden oft bemüht, wenn es darum geht, die Veränderungen zu beschreiben und zu bewerten, welche sich im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in der globalen Informations- und Kommunikationslandschaft vollzogen haben. Und in der Tat: Ein neuer öffentlicher Raum ist entstanden, von bisher ungekannten Ausmaßen, in dem Informationen angeboten, gesucht, gefunden, gekauft und ausgetauscht werden, zu all den Zwecken, zu denen seit alters her Informationen angeboten, gesucht, gefunden, gekauft oder ausgetauscht werden. Ein Raum aber, und dies ist das eigentlich Neue, der die ganze Erde umschließt, mit quasi Lichtgeschwindigkeit durchmessen wird und - im Prinzip - allen offensteht.

Er ist nicht aus dem Nichts entstanden. Die Erkenntnisse und Errungenschaften von Naturwissenschaft und Technik vor allem der letzten drei- bis vierhundert Jahre bilden sein Fundament und seine Bausteine. Sein eigentlicher Bau - oder sollten wir besser sagen, sein Wachstum? - begann vor kaum hundertfünfzig Jahren mit der Verlegung der ersten Telegraphenleitungen. Seine Entwicklung hat sich seither ständig beschleunigt. Sie ist noch längst nicht vollendet. Ihr vorläufiger Höhepunkt, nach weltumspannender Telegraphie und Telephonie, nach Hörfunk und Fernsehen, ist zweifellos das Internet: Nur wenig mehr als ein halbes Jahrhundert ist es her, daß die ersten elektronischen Rechenmaschinen, saalfüllende und Heizungen ersetzende Metallschränke, ihren Dienst aufnahmen, von Spezialisten betreut. Und heute schon, dank jener Beschleunigung, ist es uns allen möglich, vom häuslichen Wohnzimmer aus per Tastendruck und Mausklick unseren persönlichen, über das öffentliche Telefonnetz mit dem Internet verbundenen, Computer dazu zu veranlassen,

* blitzschnell eine Nachricht an einen Korrespondenten irgendwo in der Welt zu versenden;

* uns in wenigen Sekunden oder Minuten den Text eines Buches, einen Zeitungsartikel oder einen wissenschaftlichen Aufsatz zu liefern, bildliche, akustische oder gar filmische Illustrationen inklusive;

* in einem beliebigen Land dieser Erde eine Ware zu bestellen;

* Geldüberweisungen zu tätigen;

* unsere Meinung zu jedem beliebigen Thema öffentlich zu plakatieren;

* sich mit neuer Software zu versorgen, für welchen Spaß, für welche besondere Dienstleistung auch immer.

Um nur einige der neuen Möglichkeiten zu nennen, und dies nur in sehr allgemeiner Form ...

Und schon werden solche Dienste auch von jenen poppig gestalteten kleinen schwarzen oder bunten Kästen verrichtet, die in Westen- oder Handtaschen passen und sich bis dato im wesentlichen darauf beschränkten, (immerhin) unsere Stimmen drahtlos in die weite Welt zu übertragen.

Dabei ist die Erweiterung des Aktionsradius eines jeden Einzelnen nur der sichtbarste Ausdruck einer Entwicklung, welche Unternehmen, Institutionen und alle Arten von Organisationen zwingt, ihre Strukturen und Arbeitsweisen ständig zu überdenken und mit den Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnik in Einklang zu bringen, um so neue, eventuell globale, Handlungsfelder zu eröffnen2.

Die bald totale Digitalisierung der Signalübermittlung sowie der Kodierung und Speicherung fast aller Inhaltsformen bringt es mit sich, daß bisher technisch getrennte Medien zusammenwachsen, konvergieren. Bis Telephonie, Rundfunk und selbst Fernsehen über das (oder ein zukünftiges) Internet der Computer zufriedenstellend funktionieren, wird es womöglich nicht mehr lange dauern. Die Infrastruktur ist - in den Ländern des Westens - weitgehend vorhanden.

Aus Multimedia wird Hypermedia in jenem grenzenlosen Raum der Information, Unterhaltung und Begegnung, Cyberspace genannt, vor wenigen Jahren noch Science Fiction3, heute schon beinahe Realität im World Wide Web (WWW), der inzwischen populärsten Anwendung des Internet.

Nachhaltige technische Entwicklungen (und seien sie nachhaltig auch nur für relativ kurze Zeit) vollziehen sich im allgemeinen nicht ausschließlich aufgrund von immanenten Triebkräften und Motivationen. Sie finden vielmehr immer in einem vorgegebenen sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Kontext statt, der seinerseits Wandlungen unterliegt, deren Ursachen unter anderem im technischen Wandel (oft auch Fortschritt genannt) zu suchen sind. Das Potential technischer Artefakte und das Interesse daran einerseits, sowie sozioökonomische und letztlich auch politische Strukturen andererseits, bedingen einander. Keine Generation der vergangenen zwei- bis dreihundert Jahre, auch und gerade nicht die unsere, blieb und bleibt von dieser Tatsache verschont. Im Grunde eine Binsenweisheit, scheint sie, nota bene, doch auch verantwortlich zu sein für jenes eingangs erwähnte Phänomen der Beschleunigung des Wachstums des Cyberspace, der uns Zeitgenossen zu Zeugen des Übergangs von einer Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft4 macht, mit allen damit verbundenen angenehmen (z.B. Produktivitätssteigerungen, verbesserte Informationsversorgung) und unangenehmen Begleiterscheinungen (z.B. strukturell bedingte Arbeitslosigkeit, sozialer Ausschluß, Informationsüberflutung).

In dem Maße jedenfalls, in dem sich die Möglichkeiten und die Effizienz der Kommunikation vermehren und erhöhen, intensiviert sich gesellschaftliche Interaktion. Und in dem Maße, in dem jene zunimmt, wächst der Bedarf an Kommunikation. Ein Prozeß mit Rückkopplung, der, wie die Erfahrung lehrt, durchaus aus dem Gleichgewicht geraten kann, mit entsprechend destruktiven Konsequenzen.

Gesellschaftliche Interaktion ist hier nichts anderes als ein Synonym für politisches, wirtschaftliches und soziales Handeln, Domänen par excellence staatlicher Intervention. Ja, es ist vielleicht, mit hinreichender Abstraktion, nicht zu gewagt zu behaupten, daß Staat die jeweils konkrete Implementierung von Regeln bedeutet, welchen die Kommunikation unter politisch, wirtschaftlich und sozial handelnden Individuen und Gruppen unterworfen ist. Staaten könnten somit auch als Kommunikationsgemeinschaften verstanden werden. Umgekehrt sind Kommunikationsgemeinschaften offenbar nicht mit Staaten identisch und häufig sogar unabhängig von Staaten.

Es ist zumindest plausibel, daß neben den eigentlichen Inhalten (und ihren sprachlichen, bildhaften und sonstigen Formen) die jeweiligen Medien und Technologien der Kommunikation den Charakter solcher Gemeinschaften entscheidend prägen, zumal auch Inhalte und Medien einander wechselseitig beeinflussen. (Dies ist vermutlich eine Standardinterpretation des vielzitierten McLuhan'schen Diktums "the medium is the message".5)

Und schließlich kann ein Medium6 eine Kommunikationsgemeinschaft überhaupt erst konstituieren: ihre Zusammensetzung und Gruppierungen, sowie Eigenschaften der Beziehungen zwischen den jeweiligen Agenten. Genau dies scheint auch das Medium Internet, die geographisch grenzenlose Kommunikationsarena Cyberspace, zu bewirken7.

Die Population des Cyberspace ist multinational, multiethnisch, multikulturell, multilingual (wenn auch das Englische deutlich dominiert), und sie untersteht keinem einzelnen Staat. Gewiß, sein physikalisches Substrat ist an viele, klar voneinander abgegrenzte, Territorien gebunden, und es steht in der Macht der über diese Territorien herrschenden Staaten, ihren Bürgern den Eintritt in den Cyberspace zu verwehren und diese gar für den Versuch der Übertretung zu bestrafen. Sie können den Zugang beschränken8, kontrollieren und überwachen. Dafür gibt es die verschiedensten Mittel. Jedoch erweist sich ein solches Verhalten meist als kontraproduktiv, indem es allenfalls einer zunehmenden Isolierung Vorschub leistet (vergleichbar womöglich mit einer willentlichen Abschottung von internationalen Finanzströmen).

Dabei ist es durchaus verständlich, daß selbst in demokratisch verfaßten Staaten die politisch Verantwortlichen dieses neue Medium, mit seiner bunten Nutzerschar, nicht nur, ob seines ziemlich offensichtlichen wirtschaftlichen Nutzens9, mit Wohlgefallen betrachten, sondern auch mit einigem Mißtrauen beobachten. Schließlich sehen sie sich mit einer Kommunikationsgemeinschaft konfrontiert, die sich radikal von vertrauteren staatsinternen oder staatstragenden Gemeinschaften unterscheidet, die als Ganzes nicht unter ihre Jurisdiktion fällt und die, sich weitgehend selbst überlassen, mit großer Geschwindigkeit wächst10. Eine Kommunikationsgemeinschaft ohne zentrale Lenkung zudem, fast eine Anarchie.

Auf die oft gestellte Frage "Wer regiert das Internet?" gibt es in der Tat keine eindeutige Antwort. Vielleicht bestenfalls diese: Das Internet wird von verschiedenen Kommunikationsprotokollen regiert. Das klingt abstrakt, aber natürlich stehen hinter den Protokollen diejenigen, die sie definieren. Dies sind Gremien wie die Internet Society (ISOC), die Internet Engineering Task Force (IETF), die Internet Assigned Number Authority (IANA) (deren Aufgaben in Zukunft durch die neue Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) übernommen werden) oder das World Wide Web Consortium (W3C). Allerdings: Deren Gesamtheit als Regierung zu bezeichnen, wäre unangemessen. Es sind, prima facie, Administratoren, die dafür sorgen, daß jeder, der sich dem Netz anschließen will, dafür verläßliche Vorgaben (Standards) erhält.11 Über im Netz transportierte Inhalte bestimmen sie nicht und - cum grano salis - auch nicht darüber, wer diese Inhalte wann und wo dem Netz übergibt.

Dies scheint keineswegs selbstverständlich, bedenkt man die Entstehungsgeschichte des Internet12. Ohne die massive finanzielle Unterstützung durch verschiedene Regierungsstellen der USA (insbesondere auch militärische Stellen) wäre es gewiß nicht zustande gekommen. Und die USA sind, wie man weiß, ein sehr mächtiges Staatsgebilde. Mächtige (jeder Couleur, jeder Art) wollen, aus welchen Gründen auch immer, im allgemeinen ihre Macht erhalten und nach Möglichkeit sogar vermehren. Folglich ist zu vermuten, daß die Entstehung des Internet - zunächst zum Nutzen des US-amerikanischen Wissenschafts- und Forschungsbetriebes - nicht ohne ein gewisses nationales Interesse13 gefördert wurde. Dies mag so sein. Dennoch wäre es heute sicher abwegig, das Internet als Herrschaftsinstrument einer Supermacht zu qualifizieren. Der Interessenmix14, welcher die Entwicklung - besonders in den letzten fünf bis zehn Jahren - vorangetrieben hat, und der die heutige und zukünftige Nutzung des Cyberspace motiviert, ist internationaler und weitaus komplexer, als daß ein solch einfaches Urteil gerechtfertigt wäre15. Daß schließlich die Internet-Technologie (TCP/IP, etc.) die Oberhand gewann, liegt zweifellos unter anderem16 an der normativen 'Gravitationskraft' des Faktischen, die ein großer Wirtschaftsraum wie die USA auf den Rest der Welt ausübt. Auch das sich vereinende Europa, selbst unterwegs zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum, konnte sich diesem Sog nicht entziehen. Man mag darüber streiten, ob das in (Kontinental-) Europa lange favorisierte OSI Modell der Computervernetzung17 diesen Sog eventuell sogar verstärkt hat.

Inzwischen ist der Cyberspace selbst, neben all dem, was er sonst noch ist, ein riesiger Wirtschaftsraum. Und er ist das Forum, in dem jeder, freier als im Londoner Hyde Park, seine Meinung kundtun kann, jeder für irgend etwas werben kann, jeder mit jedem kommunizieren kann. Und so stellt sich für viele Beteiligte die Frage:

Braucht der Cyberspace eine Regierung

Eine Instanz, die den Zugang zu diesem Medium regelt, gar kontrolliert; die darüber wacht, daß es nicht zur Durchsetzung partikularer Interessen oder zu mafiosen Umtrieben mißbraucht wird; die verhindert, daß es mit Inhalten obszöner Art, Aufrufen zu Gewalt oder Anleitungen zur Herstellung von Vernichtungswaffen beschickt wird? Eine Instanz, die die über das Netz abgewickelten Handelstransaktionen aufzeichnet um sie dann zu besteuern? Eine Instanz, die allfällig entstehende Konflikte unter Internet-Teilnehmern schlichtet und die Privatsphären der Nutzer des Netzes schützt? 

Bedenkt man diese (und manche andere) Einzelfragen etwas genauer, so fällt schnell auf, daß die durch unsere Titelfrage suggerierte Analogie doch einiger Interpretation bedarf. Regierung ist schließlich nur ein Organ staatlicher Gewalt, die in westlichen Demokratien jedoch üblicherweise dreigeteilt ist18. Worauf es den Fragestellern offenbar ankommt, ist vielmehr eine Art Kontrolle oder Beaufsichtigung des Treibens in jenem Kommunikationsraum - durch geeignet legitimierte öffentliche Institutionen, seien diese nun gebunden an Einzelstaaten, an Staatenbünde oder an globale supranationale Organisationen, vergleichbar am ehesten vielleicht mit Marktaufsichtsbehörden, die Konsumenten und anderen Marktteilnehmern ein Minimum an Ordnung und Fairness garantieren.

Die heftigsten Reaktionen auf jene Frage kommen von denen, die hinter einer positiven Antwort den Versuch vermuten, staatlichen Einfluß, Zensur also, auf die Inhalte des Cyberspace auszuüben. Sie haben dazu guten Grund. So rief der von der US Legislative im Jahre 1996 erlassene Communications Decency Act19, mit einer sehr vagen Definition dessen, was denn anständig sei, den geharnischten Protest eines großen Teils der eingefleischten Internetter hervor. Das Gesetz wurde, nach einer Klage der American Civil Liberties Union (ACLU)20, kaum ein Jahr später vom US Supreme Court wieder kassiert. Es wurde für nicht vereinbar befunden mit dem ersten US Verfassungszusatz, der das freie Wort garantiert. Paradoxerweise hat die US Legislative selbst mit dem von ihr im September 1998 unter großem Tamtam in's World Wide Web lancierten Report über ihres Präsidenten heavy petting21 einen (überraschend niedrigen) Anständigkeits-"Standard" proklamiert.

Und die eindeutigste Antwort auf unsere Titelfrage, nämlich eine klares, bedingungsloses Nein, gibt die von John Perry Barlow, einem der Begründer der Electronic Frontier Foundation, verfaßte Declaration of the Independence of Cyberspace22, veröffentlicht am Tag der Unterschrift des Communications Decency Act durch den US Präsidenten. Sie zeugt von einem idealistisch romantischen Anarchismus und plädiert, vielleicht aus der Hitze des Augenblicks, für die ausschließliche Selbstregulation der Kommunikationsgemeinschaft Internet / Cyberspace.

Dies ist das eine Extrem, dessen Advokaten jedoch offenbar die Entstehungsgeschichte des Internet vergessen. Bis zu seiner, durch die WWW-Anwendung begünstigten (wenn nicht ermöglichten), quasi explosionsartigen Ausdehnung zu Beginn der neunziger Jahre, war das Internet vollständig unter der direkten oder indirekten Kontrolle von US Regierungsstellen23, und "unanständige" Inhalte waren kein Problem. Damals war das Netz erst der Nukleus eines Cyberspace, Experimentierfeld und Spielwiese von Wissenschaftlern und Ingenieuren, von der breiten Öffentlichkeit und kommerziellen Agenten noch unentdeckt und unberührt. Unabhängig war es jedenfalls nicht.

Aber aus dem Spiel ist längst Ernst geworden. Das Experimentierstadium ist in die erste operationale Phase übergegangen. Ein Massenmedium und ein Marktplatz zugleich sind entstanden. Die mit der Regierungsfrage angeschnittenen Teilfragen sind daher keineswegs überraschend. Sie stellten sich in der Vergangenheit so oder ähnlich immer wieder im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Medien (auch Medien für den Transport von Personen und Gütern!) oder dem Aufkommen neuer Märkte. Ungewöhnlich an diesen Fragen, nun bezogen auf den Cyberspace, sind lediglich die Dimensionen ihres Gegenstands, die keine einzelstaatlichen Antworten mehr zulassen. Nationale Gesetzes- und Gesetzgebungsmodelle greifen - im Wortsinn - zu kurz oder sind schlicht unangemessen24. Und kein einzelner Staat, auch nicht die USA, Heimat des Internet, kann Antworten diktieren, die dann für alle gelten sollen. Neue Paradigmen sind vonnöten. Phantasie ist angesagt.

Die einschlägigen europäischen Diskussionsbeiträge und Vorschläge, formuliert und vorgebracht von der Europäischen Kommission, dem Exekutivorgan der Europäischen Union, sind unter anderem vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die Verpflichtung der Kommission, zur Schaffung eines gemeinsamen, alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union umfassenden Marktes nach Kräften beizutragen und hierfür entsprechende Initiativen zu ergreifen, erstreckt sich auch und insbesondere auf den Cyberspace.25 Das erklärte Ziel der Europäer ist es, diesen für alle, die sich in ihm bewegen wollen, nicht nur (technisch) offen und begehbar zu erhalten und in diesem Sinne ständig weiter zu verbessern, sondern ihn auch zu einem Ort der Rechtssicherheit und damit zu einem wahrhaft nützlichen öffentlichen Raum zu machen - unter Wahrung eines fairen Gleichgewichts der Interessen einzelner Gruppen und Individuen. Und soweit wie nur irgend möglich, soll dieses Gleichgewicht durch Prozesse der Selbstregulation erreicht werden.

In einer am 4. Februar 1998 den übrigen EU Organen vorgelegten Mitteilung über Globalisation and the Information Society: the Need for Strengthened International Co-operation26 hat die Kommission einige der auf dem Weg zu diesem Ziel zu beackernden Problemfelder aufgezeigt und eine Internationale Charta zur Implementierung von Lösungen angeregt. Die fraglichen Problemfelder ergeben sich sämtlich aus der Tatsache, daß der Cyberspace die traditionellen politischen Grenzen ignoriert. Beispiel:

Gerichtsbarkeit - Im Staat A wirft die über einen Webserver X angebotene Information keine rechtlichen Probleme auf; im Staat B jedoch, von dem aus X zugänglich ist, kann die gleiche Information zu Rechtsstreitigkeiten führen.

Wichtige Spezialfälle hiervon sind:

Urheberrecht - Im Staat A sind die fair use Ausnahmen großzügiger als im Staat B; ein Webserver in A, zugänglich aus B, verletzt daher möglicherweise Gesetze von B.

Datenschutz - Staat B hat keine strikte gesetzliche Regelungen für die Weitergabe persönlicher Daten. Ein Bewohner von Staat A, der einem in B befindlichen Webserver seine persönlichen Daten überläßt, hat keine weitere Kontrolle über diese Daten.

Verbraucherschutz - Bei Bestellungen von Produkten via Internet ist nicht ohne weiteres erkennbar, welche Haftungs- und Gewährleistungsregeln gelten.

Auch grenzüberschreitende Telearbeit kann Probleme aufwerfen: Ein Angestellter der Firma X in Staat A wohnt im Staat B und verrichtet dort seine Arbeit via Internet. Wessen Staates Regeln gelten wann?

Für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Geschäftsbeziehungen über das Internet sind ferner international vereinbarte Verfahren etwa der Authentifizierung von Dokumenten und digitalen Signaturen notwendig. Die Vertraulichkeit geschäftlicher und privater Kommunikation sollte - mittels allgemein akzeptierter (und insbesondere nirgends kriminalisierter) kryptographischer Methoden - überall sichergestellt sein. Kriminelles Verhalten im Cyberspace oder dessen Benutzung zu kriminellen Zwecken sollte mindestens ebenso verfolgbar sein wie Kriminalität auch sonst verfolgbar ist.

Nicht zuletzt dürfte der Vorschlag einer Internationalen Charta durch die Vorbereitung des - schließlich am 30. Januar 1998 - veröffentlichten Grünbuchs der US Regierung27 motiviert worden sein, welches als Grundlage für eine Diskussion der Reform des Systems zur Benennung der Internetdomänen (Domain Name System, DNS)28 diente. Dieses System, das die Struktur und Verwaltung des Raums der Domänennamen (z.B. aifb.uni-karlsruhe.de) und dessen Abbildung in den Raum der Internet-Adressen (IP Adressen, z.B. 207.136.90.76) beinhaltet, ist von zentraler Bedeutung zum Beispiel für die kommerzielle Nutzung des Internet. In einer Mitteilung der Kommission an den Ministerrat vom 20. Februar 1998 heißt es dazu:

The management of both these number ranges, the names and their domains (e.g. top-level domains .COM, .NET, .ORG) is becoming of the highest commercial, even strategic, interest. Access to numbers, but in particular to names, will determine the visibility of enterprises on the Internet. This visibility is of vital importance in attracting customers and thus for electronic commerce.29


In der Tat: Das DNS ist im Prinzip eine große verteilte Datenbank mit einigen zentralen Komponenten (z.B. den sogenannten root servers der top-level domains .COM, .NET, .ORG, .INT und .EDU, ganz zu schweigen von .MIL und .GOV). Wer dieses System kontrolliert, hat zweifellos Macht im Internet, ein Beleg für die Stichhaltigkeit unserer Fußnote 11.30

In der Vergangenheit war es die von der US Regierung abhängige Organisation Internet Assigned Number Authority (IANA, s.o.), welche hier das Heft in der Hand hielt. Die im genannten Grünbuch gemachten Vorschläge liefen darauf hinaus, daran, zumindest hintergründig, nicht viel zu ändern. Die gemeinsame Antwort von Europäischer Kommission und Ministerrat hob daher hervor, daß ...

In the view of the European Community and its Member States, however, the globalization of the Internet and the importance of an international framework for the long-term organization of the Internet underlines the need to associate a wide range of international interests with future policy in this area. The European Community and its Member States believe that the future of the Internet must be agreed in an international framework.31

Das im folgenden Sommer (1998) von der US Regierung herausgebrachte Weißbuch32 nahm einige der europäischen Anregungen auf, und die Europäische Kommission reagierte grundsätzlich positiv33. Dennoch bleiben Vorbehalte, etwa hinsichtlich der US Gerichtsbarkeit über die neue (und oben bereits erwähnte) Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), die, als privatrechtliche gemeinnützige Organisation, Aufgaben der alten IANA übernehmen soll.

Einen internationalen Rahmen für die Zukunft des Internet gibt es allenfalls in Ansätzen. Nach den Vorstellungen der Europäer soll dieser Rahmen so offen wie möglich sein und zum Beispiel die reibungslose Einbindung weiterer Internet Wachstumsregionen (etwa Osteuropa, Südostasien, Südamerika) gestatten. Er soll ferner offen sein für alle Arten von Spielern auf dem Parkett: für Anbieter von Internetdiensten und deren Organisationen sowie Unternehmungen, die ihre Dienste im Internet anbieten, aber natürlich auch für die Vertretungen von Internetnutzern. Internationale Institutionen wie die World Trade Organisation (WTO) oder die World Intellectual Property Organization (WIPO) sollten bei der Schaffung global verbindlicher Richtlinien für das Internet maßgeblich beteiligt werden.

Bei all dem dominiert der elektronische Handel beziehungsweise, allgemeiner, der elektronische Geschäftsverkehr, die Agenda34. Und die Parole lautet, wie gesagt: soviel Selbstregulation wie möglich; ganz im Sinne neoliberaler Wirtschaftspolitik, möchte man vermuten. So hat die Kommission im Sommer 1998 die Vertreter zahlreicher Unternehmen zu einem Runden Tisch über die Thematik Internationale Internet Kooperation geladen. Dieser Runde Tisch hat sich inzwischen zu einem Global Business Dialogue (GBD)35 ausgeweitet, mit Teilnehmern im wesentlichen aus den G7 Staaten, welche - in verschiedenen Arbeitsgruppen - unter anderem die oben angedeuteten Themen (Gerichtsbarkeit, Urheberrecht, Besteuerung, etc.) diskutieren, mit dem Ziel, allgemein akzeptierbare Lösungen zu finden.

Ganz im Sinne neoliberaler Wirtschaftspolitik? Aber vielleicht geht es nicht anders. Staatlicher Zwang, gleichgültig ob in genuinem demokratischem Prozeß entschieden oder autoritär dekretiert, läßt sich im Cyberspace kaum durchsetzen. Nicht einmal die große staatliche Bruderschaft, wie sich in diversen Kryptographiedebatten36, aber auch in der Diskussion um Enfopol37 gezeigt hat - allen Machtbegehrlichkeiten und Lauschtechniken38 zum Trotz. Dennoch ist äußerste Wachsamkeit geboten: Das globale Machtgefüge kennt (noch) nicht die checks and balances, die einst der staatlichen Ordnung der heute einzigen Supermacht zugrundelagen. Sein Legitimationsdefizit ist enorm.

Zurück zur Medientheorie McLuhan'scher Prägung: Ahnten die Zeitgenossen Gutenbergs, daß die mit der Erfindung des Buchdrucks eingeleitete Revolution des Mediums Schrift einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung einer neuen Weltordnung liefern würde? Ahnen wir heute, welche Wirkungen der neue Kommunikationsraum auf die künftigen globalpolitischen Strukturen haben wird? Sollte unsere Titelfrage nicht vielmehr umgekehrt gestellt werde: "Brauchen die zukünftigen Regierungen der Welt einen Cyberspace des freien Denkens, Schreibens, Handelns und Spielens?" Die Antwort hierauf könnte ein uneingeschränktes Ja sein.

Es liegt an uns. 

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Bemerkungen und Verweise:

1 Dieser Beitrag gibt die persönlichen Ansichten und Interpretationen des Autors wieder, nicht die seines Arbeitgebers.

2 vgl etwa: Eason, Ken: Information Technology and Organisational Change; London 1990

3 Gibson, William: Neuromancer; London 1984

4 Nora, Simon; Minc, Alain: L'informatisation de la société; Paris 1978

5 Deibert, Ronald J.: (Parchment, Printing, and Hypermedia - Communication in World Order Transformation; New York 1997)

6 Öffentlicher Weg ist eine der Bedeutungen des lateinischen Wortes medium (vgl.: (Der kleine Stowasser, lateinisch-deutsches Wörterbuch; München 1959)

7 ... in der man zwar ohne Pass reist, aber doch gelegentlich ein Passwort parat haben muß.

8 Und viele tun es. Vgl. z.B. eine Meldung in Der Spiegel vom 8. Juni 1999 über die polizeiliche Schließung von 300 Internet-Cafés in Shanghai ((http://www.spiegel.de/netzwelt/politik/0,1518,26268,00.html)

9 ... abzulesen beispielsweise an den Kursen der Aktien von Unternehmen, die im und mit dem Internet ihre Geschäfte machen ...

10 von Juli 1992 bis Januar 1999 stieg die Zahl der direkt über das Internet verbundenen Rechner (Internet hosts) von ca. 1 Million auf über 43 Millionen (vgl. http://www.nw.com/zone/host-count-history)

11 Was nicht heißt, daß durch Administration keine Macht aufgebaut werden könnte; im Gegenteil. Wir werden noch kurz darauf zurückkommen.

12 vgl.: A Brief History of the Internet; (http://www.isoc.org/internet/history/brief.html)

13 US Department of Commerce Report on Technology in the National Interest; (http://www.ta.doc.gov/reports/techni/techni.htm)

14 Er schließt insbesondere die Interessen der Telekommunikationsanbieter ein, deren verfügbare Bandbreiten aufgrund der technischen Entwicklung (Satelliten, Lichtwellenleiter, etc.) in den vergangenen zehn Jahren enorm gewachsen sind und die Nachfrage weit hinter sich lassen (vgl. z.B. (http://newsweek.washingtonpost.com/nw-adv/digital/office99/global.htm). Allein dieser Sachverhalt wäre ein klassischer Fall für eine Untersuchung der Interdependenz von Technik, Wirtschaft und Politik.

15 Beispielsweise ist zu berücksichtigen, daß etwa zeitgleich mit den US Forschungsnetzen (ARPANET, NFSNET, CSNET) und dem (zunächst auf die USA beschränkten) Internet auch in den meisten Ländern Europas, mit staatlicher Förderung, Computernetze (JANET in Großbritannien, DFN in Deutschland, RENATER in Frankreich, etc.) entstanden, die den Bedarf von Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen decken sollten. Die Europäische Kommission hat den Zusammenschluß dieser Netze von Beginn an unterstützt, freilich ohne zunächst die Internet-Protokolle zu favorisieren.

16 Einer der wichtigsten weiteren Gründe dürfte der - natürlich nicht absichtslos - offene Prozeß der Entwicklung dieses Modells sein (vgl. auch Fußnote 12).

17 ... mit Anwendung von CCITT/ITU X-Empfehlungen (vgl. (http://www.itu.int/itudoc/itu-t/rec/x/index.html), die zwar sicherere Kommunikation garantieren, dafür aber aufwendiger zu implementieren sind als die (ohne viel Umstand erhältlichen) Internet Standards.

18 Man berücksichtige freilich, daß staatliche Gewalt nicht notwendigerweise auch die faktische Macht einschließt.

19 Communications Decency Act (http://www.cybersquirrel.com/clc/expression/comm_decent_act.html)

20 American Civil Liberties Union (http://www.aclu.org)

21 Mr. Clinton's heavy petting affair: (http://www.npr.org/news/national/starrspecial.html)

22 Electronic Frontier Foundation, Declaration of the Independence of Cyberspace: (http://www.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html)

23 vgl.: Rutkowski, A.M.: Factors Shaping Internet Self-Governance; (http://www.wia.org/pub/limits.html)

24 Außer der Aufregung um den Communications Decency Act belegen dies auch gerichtsnotorische Fälle, wie zum Beispiel die Klage gegen Felix Somm, den Chef von CompuServe Deutschland, wegen Verbreitung pornographischer Schriften (vgl. (http://www.digital-law.net/artikel5/artikel/urteil.html).

25 Ausführliche Darstellungen dieser Initiativen sowie einschlägige offizielle Dokumente sind über den Webserver des Information Society Project Office ((http://www.ispo.cec.be) der Europäischen Kommission zugänglich.

26 Globalisation and the Information Society: the Need for Strengthened International Co-operation: (http://www.ispo.cec.be/eif/policy/com9850en.html)

27 A proposal to improve technical management of Internet names and addresses ((http://www.ntia.doc.gov/ntiahome/domainname/dnsdrft.htm)

28 vgl.: Fashler, Robert A.: The International Internet Address and Domain Name System ((http://www.davis.ca/topart/domainam.htm)

29 (http://www.ispo.cec.be/eif/policy/governance.html)

30 ... und ein Argument gegen Julias Rosentheorie (vgl Shakespeare: (Romeo and Juliet)

31 am 16. März 1998, vgl. (http://www.ispo.cec.be/eif/policy/govreply.html)

32 (http://www.ntia.doc.gov/ntiahome/domainname/6_5_98dns.htm)

33 (http://www.ispo.cec.be/eif/dns/com98476.html)

34 Interessanterweise sind es, zumindest was die Europäische Union betrifft, eher die technologieorientierten Förderprogramme, welche sich auch des beachtlichen kulturellen Potentials des Cyberspace annehmen. Beispielsweise hält das Information Society Technologies (IST) Programm, Teil des 5. Rahmenprogramms, nicht nur ein Budget für den Beitrag von Archiven, Museen und Bibliotheken bereit, sondern auch beträchtliche Mittel für die Entwicklung von Inhalten im Bereich Bildung und Ausbildung (vgl.: (http://www.cordis.lu/ist/home.html).

35 Global Business Dialogue: (http://www.gbd.org)

36 vgl. z.B.: (http://www.epic.org/reports/crypto1999.html)

37 vgl. z.B.: (http://news.heise.de/tp/deutsch/special/enfo/default.html)

38 vgl.: An appraisal of the technologies of political control (Bericht des Scientific and Technological Options Assessment Office (STOA) des Europaparlaments, (http://www.europarl.eu.int/dg4/stoa/en/publi/166499/execsum.htm); siehe auch: (http://www.qlinks.net/quicklinks/ecoutes.htm )