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Die Wissensgesellschaft - ein Kontext für Europa-orientierte Forschungspolitik ? (*)



Forschungspolitik: Was ist das eigentlich? Warum wird sie betrieben? Wie entsteht sie? Was soll sie bewirken? Wie wird sie umgesetzt? Und das alles im europäischen Rahmen, in einer und für eine 'Wissensgesellschaft' (jenes Ominosum, dem die Aufmerksamkeit auf diesem Seminar gewidmet ist). Also mit einer gewissen Aktualität. Ich hoffe, das ist ungefähr das, was Sie von mir hören möchten.

Ich habe damit das Thema des dritten Kolloquiums – mit der notwendigen Bescheidenheit - fast wörtlich übernommen. Allerdings habe ich mir auch erlaubt, dieses mit einem Fragezeichen abzuschließen. Ich beziehe es auf den als Kontext qualifizierten Zusammenhang zwischen Wissensgesellschaft und Europa-orientierter Forschungspolitik. Denn vielleicht haben wir ja gar keine Wissensgesellschaft, sondern vielmehr eine, in der großes Unwissen herrscht, und in der es daher darauf ankommt, erst Wissen zu gewinnen und zu verbreiten, zum Beispiel durch Forschungspolitik? Unwissen gibt es in der Tat über sehr vieles, unter anderem auch darüber, wie und zu welchem Ende wir uns der Ergebnisse jahrhundertelanger wissenschaftlicher Forschung bedienen sollten. Ist also die 'Wissensgesellschaft' nicht eigentlich das Ziel? Ein sich ständig entfernendes Ziel darüber hinaus? Sollten wir unsere Gesellschaft nicht treffender und ehrlicher - im sokratischen Geiste gewissermaßen - 'Unwissensgesellschaft' nennen?

Ich will die Polemik nicht zu weit treiben. Schließlich haben Sie mich nicht eingeladen, um über den Begriff, der auf dieser Zusammenkunft im Mittelpunkt steht, zu philosophieren. Doch sagen möchte ich schon, daß er mir nicht ganz geheuer ist. Ich verstehe natürlich, daß es bequem ist, eine Gesellschaft zum Beispiel durch Präfixe wie 'Agrar', 'Industrie', 'Information' und schließlich 'Wissen' zu charakterisieren, welche die jeweils vorherrschende wirtschaftliche Produktionsweise bezeichnen mögen. Aber ich werde insbesondere bei den letzten beiden das ungute Gefühl nicht los, daß es hier mit den Schlagworten ein bisschen zu rasch Schlag auf Schlag geht. Sie erinnern mich ein wenig an Markenzeichen, auch Logos genannt, deren Hauptzweck es ist, sich in das Bewußtsein der Käufer zu graben, unabhängig davon, ob diesen das bezeichnete Produkt wirklich etwas nützt oder ob sein Besitz nur einen relativen Prestigegewinn mit sich bringt. Außerdem: Mir scheint da eine gewisse Beliebigkeit am Werk, die sich am jeweils dominanten (oder modischen) soziologischen Interesse orientiert. Warum also nicht zum Beispiel 'Dienstleistungsgesellschaft', 'Freizeitgesellschaft', 'Zivilgesellschaft' (besonders modern, besonders umfassend!), 'Mediengesellschaft' oder 'Spaßgesellschaft'?

Dennoch: für unser Thema ist die 'Wissensgesellschaft' als Begriff allein schon deshalb interessant, als er in den einschlägigen, von der Europäischen Kommission veröffentlichten Papieren inzwischen an vorderster Front auftaucht, gewissermaßen als Leitbegriff des nächsten Fünfjahresplans für Forschung und technologische Entwicklung, auch "6. Rahmenprogramm" genannt. Er löst die "Informationsgesellschaft" ab, die zumindest für den mir am besten vertrauten Teil des 5. Rahmenprogramms, des IST oder "Information Society Technologies" Programms, als sinnstiftendes Ziel aller Forschungsförderung gilt. So schnell geht das.

Ich habe mir diese kleine Vorrede erlaubt, um meine Position schon vorab zumindest andeutungsweise klarzumachen. Ich werde also bis auf weiteres den Begriff "Wissensgesellschaft" beiseite lassen und mich den eingangs genannten eher praktischen Fragen zuwenden.

Die erste Frage lautet: Was ist eigentlich Forschungspolitik? Da sollte die Antwort auf der Hand liegen. Schließlich brauchen wir uns nur auf einen Politikbegriff zu einigen und diesen dann geeignet zu spezialisieren. Die Begrenztheit der Zeit gebietet es mir, anstatt einer ausführlichen Erörterung dieses Begriffs nur meine eigene, durchaus laienhafte, Antwort als Arbeitshypothese anzubieten und zur Diskussion zu stellen.

Unter Politik verstehe ich die willentliche Herausbildung und Aufrechterhaltung von Kommunikationsstrukturen und -regeln in einer Gruppe von Individuen, mit dem Ziel, zu allfälligen "Sachfragen" und Konflikten Entscheidungen zu treffen beziehungsweise Lösungen zu finden, die das Leben der Gruppenmitglieder gemäß den Interessen aller oder einiger von ihnen beeinflussen. Mehr oder weniger oft wird dieses Ziel nicht oder nur unzulänglich erreicht.

Da die Herausbildung und Aufrechterhaltung von Kommunikationsstrukturen selbst mit einschlägigen "Sachfragen" und Konflikten einhergeht, ist diese definitorische Beschreibung offenbar rekursiv und muß folglich durch die Postulierung eines Grundkonsenses ergänzt werden. Dieser hängt von Vielem ab und ändert sich mit der Zeit.

Entscheidungen und Lösungen werden im allgemeinen durch Handlungen umgesetzt, welche Ressourcen verbrauchen, also Geld kosten. Politik hat daher ganz wesentlich mit der Etablierung und Ausübung von Macht über die einer Gemeinschaft zur Verfügung stehenden Ressourcen zu tun, darüber, zu welchen Zwecken sie von wem eingesetzt werden.

Damit ist im Prinzip auch gesagt, was Forschungspolitik ist: Politik bezogen auf die Begründung und Organisation von Forschung und die damit zusammenhängenden "Sachfragen", mit den jeweiligen Entscheidungs- und Lösungsräumen. Und mit den entsprechenden Ressourcen. Doch der Teufel steckt, wie man weiß, im Detail. Zum Beispiel: Was für eine Forschung meinen wir eigentlich, wenn wir von Forschungspolitik reden? Ist es das, was die Universitätsprofessoren tun, die ja gewissermaßen per Dienstvertrag dazu verpflichtet werden? Oder das, was die Nur-Forscher (und nicht Auch-Lehrer) in den einschlägigen Labors der Industrie oder in großen oder kleinen Forschungszentren oder -instituten treiben? Ist es vornehmlich Naturforschung mit Nähe zur praktischen Anwendung oder lassen wir auch den Archäologen zu, der in einer keltischen Fliehburg Keramikscherben ausgräbt; die Literaturwissenschaftlerin, die den Einfluß des Islam auf die frühmittelalterliche Dichtung verstehen will oder den Soziologen, der sich um eine kritische Analyse der gesellschaftlichen Dynamik bemüht?

Sie werden schon vermuten, was ich mir hier - dem Zwang zur Beschränkung folgend - herauspicken werde oder, besser gesagt, im Hinblick auf mein weiteres Fragepensum herauspicken muß: Naturwissenschaft und Technik, versteht sich, obwohl man sicher sein darf, daß auch zum Beispiel die Forschung des Sozialwissenschaftlers oder Wirtschaftstheoretikers den Interessen mancher der am allgemeinen politischen Prozeß Beteiligten so oder so durchaus zupaß kommt.

Und ich rede hauptsächlich über öffentlich finanzierte Forschung. In der Tat: Ein öffentliches Interesse, auch über die jeweils aktuellen Aufgeregtheiten der Medien hinaus, gibt es am ehesten an den Forschungen, welche uns zum Beispiel ein bequemeres und lustigeres Leben in Aussicht stellen, von Krankheiten unbehelligt und von Nahrungs- und Energiesorgen befreit. Für solche Versprechungen stehen, spätestens seit Beginn der industriellen Revolution, die Natur- und Ingenieurwissenschaften. Dafür sind 'wir', die in grober Vereinfachung demokratisch verfaßter zeitgenössischer Herrschaftsstrukturen einmal so genannten Subjekte politischen Handelns, dann auch bereit, Ressourcen zu opfern, zum Beispiel über staatlich erhobene Steuern.

Nicht vergessen dürfen wir freilich die von großen Industrien weitgehend über den Preis ihrer Produkte finanzierte Forschung, welche fast ausschließlich dem Zweck dient, die Stellung dieser Industrien auf ihren jeweiligen Märkten zu verbessern, ihre Profitabilität zu erhöhen. (Und ich meine hier natürlich nicht die Marktforschung.)

Nicht vergessen dürfen wir außerdem die Grauzone zwischen dieser 'privaten' und unmittelbar praxisorientierten Forschung einerseits und der öffentlich geförderten Forschung andererseits. Denn letztlich soll sich diese, wenn sie denn ihre Versprechen einhalten will, auch in Produkten und Infrastrukturen niederschlagen.

Und schon gar nicht zu vernachlässigen: Jenes aus archaischen Quellen gespeiste Bedürfnis der Gruppe, Macht über die Ressourcen anderer Gruppen zu erlangen oder sich gegen ein solches Bestreben anderer Gruppen zu wehren. Und dazu tragen, insbesondere im Rahmen von Großgruppen wie Nationen und Staaten, die genannten Disziplinen, wie wir spätestens seit Archimedes wissen, geradezu bombig bei. Ja, es ist eine Binsenweisheit, daß das Bestreben nach militärischer Vor- und Übermacht seit jeher einer der stärksten Motoren des sogenannten wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist. Und Geld spielt dabei fast keine Rolle.

Halten wir fest: Die Forschungspolitik, um die es uns hier geht, betrifft einerseits die Strukturierung der Prioritätsdebatte und andererseits die Debatte selbst: Welche Rahmenbedingungen für die Forschung ergeben sich aus dem gesellschaftlichen Grundkonsens, der der 'allgemeinen Politik' als Richtschnur dient? Wer ist wann und wie - und mit welcher Legitimation (!) - an der Entscheidungsfindung darüber zu beteiligen, welche Mittel für welche Forschung aufzuwenden sind?

Forschungspolitik ist eingebettet in 'allgemeine Politik' auch insofern, als ihre Existenz selbst durch Ziele der 'allgemeinen Politik' bestimmt ist. Sie ist sowohl reaktiv als auch proaktiv. Reaktiv muß sie sein, weil sie sich mit dem begnügen muß, was möglich ist: Ein Forschungsprogramm mit dem Ziel, den Mond in grünen Käse zu verwandeln, wird sich aller Voraussicht nach und zumindest mit den heutzutage verfügbaren Methoden, nicht verwirklichen lassen. Aber proaktiv kann sie sein, indem sie die Auswahl des Möglichen und dessen Verstärkung erlaubt: Ein Forschungsprogramm mit dem Ziel, einen Menschen auf den Mond zu bringen, führte offenbar zum Erfolg, und die Konstruktion einer Bombe von bisher unvorstellbarer Zerstörungsgewalt gelang ebenfalls. Heutzutage können Entscheider qua finanzieller Ausstattung einschlägiger 'Forschungsprogramme' zum Beispiel entscheiden, ob es wünschenswert ist, das Humangenom zu manipulieren, lernende und sprachbegabte Roboter herzustellen oder lasergesteuerte Raketenabwehrsysteme im erdnahen Weltraum zu installieren.

Indem die Forschung, die wir meinen, in alle möglichen Lebensbereiche hineinwirkt, hat Forschungspolitik 'Schnittstellen' zu allen möglichen anderen 'Politiken': Bildungspolitik, Gesundheitspolitik, Verkehrspolitik, Verteidigungspolitik, Industriepolitik, Agrarpolitik, Umweltpolitik, Energiepolitik, und so weiter und so fort, und sie muß allen irgendwie dienen. Wir brauchen sie also, sie ist äußerst wichtig geworden für unsere Gemeinwesen, und das zeigt sich unter anderem offenbar darin, daß es sogar spezielle Ministerien dafür gibt, in denen sich Beamte tagein, tagaus Gedanken darüber machen sollten, wie man ein gegebenes Budget am besten unter den Forschern verteilt.

Und wie schaut es damit in Europa aus? Genauer: In jenem politischen Gebilde, das wir Europäische Union nennen? Brauchen wir auf dieser Ebene überhaupt eine Forschungspolitik? Was kann Forschungspolitik auf dieser Ebene leisten, das eine jeweils national orientierte Forschungspolitik nicht leisten kann? Und: Kann nationale Forschungspolitik nicht auch Europa-orientiert sein?

Die einfache Antwort auf die letzte Frage ist, daß Forscher - und insbesondere die Naturforscher - eigentlich noch nie - wie übrigens auch die Angehörigen des europäischen sogenannten Hochadels nicht - nationale Grenzen kannten, daß sie schon immer kooperiert, konkurriert und kommuniziert haben. Folglich sollte Forschungspolitik die Internationalität der Forschung auch in Kauf nehmen.

Die kompliziertere Antwort muß berücksichtigen, daß es in der Forschungspolitik tatsächlich nicht um Forscher und Forschung geht, sondern letztlich "nur", wie schon angedeutet, um die Ergebnisse der Forschung, und auch hier nur um bestimmte Ergebnisse, nämlich solche, die die Lebensverhältnisse der Menschen in möglichst positiver Weise (wie immer dies definiert sein mag) beeinflussen. Ein lebhaftes Interesse daran, daß zumindest die positiven Ergebnisse "im Lande" bleiben, scheint also verständlich.

Nur, was ist das Land? Was bedeutet 'nationales Interesse'? Gerade die Forscher, diese (objektiv) vaterlandslosen Gesellen, haben mit ihrer Arbeit in der Vergangenheit dafür gesorgt, daß sich die Grenzen auflösen und die Horizonte sich erweitern, ob sie es wollten oder nicht. Die Ergebnisse vergangener Forschung haben ganz massiv dazu beigetragen, daß ein Begriff wie 'nationales Interesse', der - gerade in Europa - die Politik des neunzehnten Jahrhunderts und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dominierte, langsam aber sicher (zugegeben: mit Winden und Zucken) in die Gespenstergruft der Geschichte verbannt wird. Unser Land: Ja, das kann in Mittelamerika sein, wo die Erde bebt und wir davon erschüttert werden; in Asien, wo die Börsen krachen und wir dann auch unser Fett abkriegen; in Australien, wo wir zu fröhlichem Abenteuerurlaub hinjetten. Es waren Physiker, Mathematiker, andere Naturwissenschaftler, dann Ingenieure, die, eingebunden in ein komplexes Interessens- und Interaktionsgeflecht, durch ihre Entdeckungen, Ideen und Konstruktionen unseren Erdball schrumpfen ließen - mit Telekommunikationskabeln, mit Satelliten, mit riesigen Flugzeugen - und welche die Politiker, uns alle, in Zugzwang bringen.

Einer der besseren Züge war, davon bin ich überzeugt, die Gründung des vertraglich verfaßten Europas, aus der Not heraus und der Erfahrung zweier in Europa entfachter verheerender Kriege. Die Schaffung eines gemeinsamen Marktes als Antwort auf die Enge der alten nationalen Grenzen, die freiwillige Unterwerfung (mit wenigen Ausnahmen) von nunmehr fünfzehn europäischen Staaten unter für alle verbindliche Regeln des Austauschs von Gütern, Dienstleistungen und Kapital und die damit einhergehende Europäisierung ganzer Politikfelder. Gerade die derzeit sich verstärkende Debatte um 'Kompetenzregelung' und die wiederbelebte Diskussion um die zukünftige Form des politischen Gebildes 'Europa' machen - positiv gewendet - deutlich, wie wichtig die gesamteuropäische Kompetenz schon geworden ist.

Die Notwendigkeit europäischer Forschungspolitik ist - pragmatisch gesehen - nichts anderes als ein Korollar zur Europäisierung jener zahlreichen Politikfelder, die von Ergebnissen der Forschung und technischen Entwicklung in hohem Maße beeinflußt werden. Sie ist sogar vertraglich kodifiziert: Es soll nach dem Willen der die europäischen Verträge schließenden Mitgliedsstaaten der Union eine solche europäische Forschungspolitik geben. Dennoch existiert sie erst in Ansätzen. Und sie ist nicht viel weniger mühsam zu verwirklichen als alle anderen europäischen Politiken.

Es mag verwundern, wenn ich behaupte, daß es eine europäische Forschungspolitik erst in Ansätzen gibt. Schließlich haben wir die vom Gemeinschaftsorgan Europäische Kommission zur Forschungsförderung betriebenen Rahmenprogramme seit gut zwanzig Jahren. Und eine der drei ursprünglichen 'Europäischen Gemeinschaften' war die 'Atomgemeinschaft', kurz Euratom genannt, deren Zweck die Realisierung einer gemeinschaftlichen Politik für die Erforschung, Entwicklung und Anwendung der Nuklearenergie sein sollte.

Allerdings: An Euratom, obwohl es formal noch immer existiert, erinnern sich heutzutage vielleicht Spezialisten, und Forschungsförderung ist allenfalls ein Instrument der Forschungspolitik, eine der möglichen Antworten auf die Frage nach der Umsetzung von Forschungspolitik, und nicht diese selbst. Aber nur eine solide, an klaren Zielen orientierte Forschungspolitik kann die Richtschnur für effektive Forschungsförderung sein.

Meine Behauptung, daß es eine genuin europäische Forschungspolitik erst in Ansätzen gibt, stützt sich insbesondere auf die Beobachtung, daß die jeweiligen Forschungspolitiken der einzelnen EU Mitgliedstaaten, und von diesen hauptsächlich der 'großen', noch immer dominieren. Dies läßt sich nicht nur in Zahlen ausdrücken, wonach das von der EU Kommission verwaltete Forschungsbudget einen Bruchteil der insgesamt von den EU Mitgliedstaaten für die Forschung aufgewandten Mittel ausmacht. Die Dominanz der nationalen Forschungspolitiken wird vor allem dort deutlich, wo es um das 'Eingemachte' geht, den für die nationalen Ökonomien oder für das Prestige als besonders wichtig erachteten Themen. Diese nationalen Politiken sind dann auch durchaus international orientiert in dem Sinne, daß man sich auf bilaterale oder multilaterale Zusammenarbeit in Europa oder darüber hinaus verständigt, wenn es denn im jeweiligen nationalen Interesse zu liegen scheint. (Wie gesagt, das 'nationale Interesse' verabschiedet sich nur unter vielmaligen Verbeugungen…)

Dafür gibt es prominente Beispiele: Für die physikalische Grundlagenforschung das Laboratorium CERN in Genf, die europäische Südsternwarte in Chile für die Astronomen und für die Weltraumforschung die europäische Raumfahrtagentur ESA in Paris. In diesem Zusammenhang der Erwähnung wert ist auch die europäische Flugzeugindustrie, die mit hohen staatlichen Zuschüssen aufgebaut wurde und die einen nicht zu vernachlässigenden Effekt auf manche Forschungsfelder hat, aus denen technische Innovationen erwachsen. Weiters wären EUREKA (A Europe-wide Network for Industrial R&D) zu nennen, eine multilaterale Initiative von 29 europäischen Regierungen zur Förderung industrienaher Forschung, sowie COST (European Co-operation in the Field of Scientific and Technical Research), eine Art europäischer Verein, dem inzwischen 32 Regierungen angehören und welcher in sogenannten Aktionen die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus den verschiedenen Staaten unterstützt.

Das kann sich sehen lassen, doch bis auf EUREKA haben all diese Beispiele nicht das Geringste mit der Europäischen Union zu tun. Die genannten Großforschungsorganisationen zum Beispiel werden nicht aus EU Töpfen finanziert, sondern direkt aus den Forschungsetats der sie jeweils tragenden Staaten. Bei EUREKA ist die Europäische Union, vertreten durch die Kommission, immerhin Mitglied.

Woran kann, sollte, sich eine genuin europäische Forschungspolitik orientieren und welche Orientierung kann sie ihrerseits geben? Zunächst: Wie alle Forschungspolitik wird sie sich realistischerweise nicht am Erkenntnisinteresse, sondern am Ergebnisinteresse orientieren. Das größte Interesse besteht zweifellos an Ergebnissen, welche den übrigen der im EG Vertrag (Artikel 3) aufgelisteten Tätigkeitsfelder zugute kommen. Wir kennen diese Liste bereits: Wirtschafts- und Handelspolitik, Agrarpolitik, Verkehrspolitik, Regional- und Strukturpolitik, Umweltpolitik, Gesundheitspolitik, Sozialpolitik, Industrie- und Wettbewerbspolitik, und so weiter.. Freilich beschränkt der EG Vertrag die Aktivitäten der EU Institutionen auf all diesen Feldern auch, und zwar durch jenes berühmte Subsidiaritätsprinzip, dem gemäß diese Institutionen nur dann tätig werden dürfen, und hier zitiere ich erstmals, "sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können." Darüber, welche Ziele welcher Maßnahmen die Gemeinschaftsebene erfordern, steht im Vertrag jedoch nichts. (Dies ist übrigens, in Parenthese sei es vermerkt, Gegenstand der aktuell immer hitziger werdenden Kompetenzdebatte.)

Dennoch: Die Wegweiser sind da. Implizit ist sogar von einem 'europäischen Interesse' die Rede, welches irgendwie über die Interessen der Mitgliedstaaten hinausgehen sollte. Was meines Erachtens nur schwach ausgeprägt ist, ist das allgemeine oder doch hinreichend allgemeine Bewußtsein für ein solches Interesse. Es scheint jedenfalls nicht vernehmlich genug artikuliert zu werden oder diejenigen, die es wahrnehmen sollten, sind etwas schwerhörig. Und wenn es denn geäußert wird, so spielt dabei meist der Vergleich mit den großen Konkurrenten USA und Japan - mit denen kein europäisches Land auf sich selbst gestellt mithalten kann - eine größere Rolle als der konstruktive Aspekt europäischer Zusammenarbeit mit dem Ziel gegenseitiger Stärkung.

Nimmt man aber das Subsidiaritätsprinzip und damit das europäische Interesse ernst und läßt auch der Phantasie hinsichtlich des Umfangs oder der Wirkungen von Maßnahmen einigen Spielraum, so lassen sich sehr wohl Ziele einer genuin europäischen Forschungspolitik erkennen. Sie bräuchte den nationalen Politiken ihr Terrain keineswegs streitig zu machen, wenn sie synergetische Ergänzungen anstrebt, etwa durch die systematische Förderung der institutionellen und projektbezogenen Zusammenarbeit von öffentlichen oder halb-öffentlichen Forschungseinrichtungen in den Mitgliedsländern. Zu fragen wäre auch, ob die seit Bestehen der Rahmenprogramme propagierte Praxis der Förderung industrienaher Forschung und Entwicklung (meist letzteres mehr als ersteres) wirklich den gewünschten Effekt hat, nämlich die Wettbewerbskraft der europäischen Industrie zu stärken. Man kann argumentieren, daß Industrieunternehmen, die für bestimmte Produkte der Hochtechnologie eine gute Marktchance sehen, diese auch ohne pekuniäre Ermutigung durch die EU Kommission entwickeln. Vielleicht, ja sehr wahrscheinlich sind ganz andere Maßnahmen notwendig.

Europäische Forschungsprogramme müßten die fähigsten Köpfe Europas anziehen und sie müßten von eben diesen fähigsten Köpfen entscheidend mitgestaltet werden. Die Teilnahme an solchen Programmen müßte für jede Forschergruppe, für jeden Forscher und für deren Institutionen einen beträchtlichen Prestigegewinn bedeuten. Dafür die geeigneten Bedingungen zu schaffen, sollte eines der vornehmsten Ziele europäischer Forschungspolitik sein.

Und welche Wegweiser könnte genuin europäische Forschungspolitik im Sinne des Subsidiaritätsprinzips setzen, im Verein mit anderen 'Gemeinschaftspolitiken'? Verlangt die Existenz des gemeinsamen Marktes nicht auch verbindliche Maßstäbe und Regeln für solche Forschung, deren Ergebnisse sich in gewinnträchtigen Produkten niederschlagen können, für die darüber hinaus ein potentiell wichtiger Bedarf besteht, in Medikamenten etwa, oder speziellen Heilverfahren? Welche Aufgaben ergeben sich für die Europäische Union zum Beispiel aus der aktuellen, in ihren Mitgliedsstaaten geführten Debatte über Bioethik, über den Einsatz der Gentechnik? Brauchen wir einen europäischen Wissenschaftsrat?

Wie gesagt, eine genuin europäische Forschungspolitik existiert erst in Ansätzen. Fairerweise muß ich hinzufügen, daß dies nicht nur meine private Ansicht ist, sondern in den obersten Etagen der europäischen Hierarchie ebenso beurteilt wird. Und man kann den Verantwortlichen das Bemühen nicht absprechen, aus diesen Ansätzen mehr zu machen, ja ganz neue Wege zu suchen und auch harsche Kritik zu verarbeiten. Die durchaus ehrgeizigen Entwürfe, welche die Kommission im ersten Halbjahr 2000 in die Diskussion eingebracht hat, tragen die Titel "Hin zu einem europäischen Forschungsraum" und "e-Europa - eine Informationsgesellschaft für alle". Und der harschen Kritik hat sie sich anläßlich des Lissabonner Gipfels im März 2000 gestellt, coram publico, als der Forschungskommissar Philippe Busquin eine erlesene Gruppe von Naturwissenschaftlern und Mathematikern (Nobelpreisträger und Träger der Fields-Medaille) einlud, ihre Meinung und ihre Vorschläge zur europäischen Forschungspolitik und Förderungspraxis darzulegen.

Man darf gespannt sein, was sich daraus entwickelt. Denn: "Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen." (Mein zweites Zitat heute! Doch es folgen mehr:) "Was hat die EU für die Europäische Forschung getan?" war eine der den Wissenschaftlern vorgelegten Fragen. "Eine ganze Menge", so ließen sich die Antworten zusammenfassen, "und sie könnte noch mehr tun, wenn sie nur flexibler und weniger bürokratisch wäre." Richard Ernst, Chemienobelpreisträger des Jahres 1991, meinte, "EU Programme sind schon in Ordnung. Sie müßten sich allerdings darauf konzentrieren, Aktivitäten zu koordinieren und nicht zu manipulieren." Und zum Thema Grundlagenforschung versus industrienaher Entwicklungsforschung gab der Mediziner und Biochemiker Christian de Duve (Nobelpreis 1974) zu bedenken, daß "die Verfolgung nützlicher und profitabler Ziele die fundamentale Tatsache ignoriert, daß die segensreichsten Anwendungen sehr häufig unvorhersehbare und daher unplanbare Resultate von Grundlagenforschung sind." Der Mathematiker Klaus Friedrich Roth ergänzt diese Einschätzung: "… die wichtigsten Anwendungen ergeben sich oft aus Forschungen, die Wissenschaftler aus reiner Neugier betreiben." Und er fügt hinzu: "Wissenschaftler sind nicht die rechten Leute, (kommerzielle) Anwendungen aufzuspüren und zu entwickeln, und sie sollten nicht gezwungen werden, ein Interesse vorzugeben, das sie nicht empfinden."

Und was hat das alles mit der 'Wissensgesellschaft' zu tun, die nicht weiter zu erwähnen mir tatsächlich bis jetzt gelungen ist? Nun, ich habe es eingangs schon angedeutet: Die 'Wissensgesellschaft' wird das auf ein Wort, ein Logo, reduzierte Motto des nächsten, sechsten EU Rahmenprogramms für Forschung und Entwicklung, welches das hauptsächliche Instrument für den Aufbau des 'europäischen Forschungsraumes' sein soll (wo die Sachen dann wieder mehr oder weniger hart aufeinander stoßen werden) und ein Vehikel für den Weg hin zu jenem 'e(lektronischen)-Europa'.

Doch welches Wissen ist hier gemeint? Wissen, das zur Weisheit führt? Zum besseren gegenseitigen Verständnis der Menschen untereinander? Zur konstruktiveren Lösung von Konflikten? Eine Mathesis Universalis? Nach allem, was ich über Forschungspolitik gesagt habe, dürfte die Antwort klar sein. Wir brauchen in den einschlägigen EU Verlautbarungen nicht lange nach ihr zu suchen: Beim schon erwähnten Lissabonner Gipfel verkündeten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union ihre Absicht, in diesem Teil der Welt innerhalb des ersten Jahrzehnts des 21sten Jahrhunderts die wettbewerbsstärkste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaft der Welt zu schaffen. Und als Schlüsselelement einer Strategie zur Erreichung dieses Ziels fordern sie eine bessere Forschungspolitik.

Diese Interpretation von 'Wissensgesellschaft' ist ehrlich genug. Aber ist sie genug? Sie verkürzt 'Wissen' auf Know-how, auf das 'corporate knowledge', welches Unternehmen erlaubt, sich nicht mehr durch die Produktion von Produkten zu definieren, sondern ausschließlich durch das Wissen um den Produktionsprozeß. (Alles andere, so koennte man hinzufuegen, wird durch Lizenzvergabe an billige Betriebe in China, Bangladesh oder Korea erledigt.) Im Vokabular der so verstandenen 'Wissensgesellschaft' wird Wissen 'gemanaged', wird zum Gegenstand einer Technologie, zur digitalen Spur im Dickicht der korporativen Computernetzwerke. Hier geht es um das Wissen zur Macht, und Wissen um des Wissens willen erscheint, wenn nicht überflüssig, dann bestenfalls zweitrangig.

Die Wissensgesellschaft - ein Kontext für Europa-orientierte Forschungspolitik? "Schöne Worte sind nicht wahr," sagte der weise Lao-Tse, "und wahre Worte sind nicht schön." Noch ehrlicher wäre es, wenn der tatsächliche Kontext der europäischen Forschungspolitik mit einem vielleicht nicht so schönen, aber wahreren Wort bezeichnet würde, anstatt mit falscher Wortmünze unerreichbare Illusionen zu wecken: Ein solches Wort wäre zum Beispiel 'Businessgesellschaft', ein im übrigen längst globaler und nicht mehr nur europäischer Nenner, auf den sich wohl inzwischen der Kontext aller Politik bringen läßt.



(*) Vortrag von Hans-Georg Stork (Bollendorf) beim Kolloquium "Die Wissensgesellschaft als Raum (europa-)politischen Denkens", ausgerichtet vom Europahaus Eisenstadt (Burgenland, Österreich), 1. - 3. März 2001

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