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Zeit,
Sein, Bewußtsein, Tod und Ewigkeit
(aus einem Reisebericht) Wieder ein ereignisloser Tag des Reisens, Fahrens. Ja, es ist auch heute, wie an allen bisherigen Tagen, nichts Außergewöhnliches geschehen. Doch sicher würde allein die Beschreibung des Gewöhnlichen wieder die gleiche beträchtliche Anzahl von Seiten beanspruchen wie an den letzten Tagen. Dabei ist -- und war -- es ganz und gar unmöglich, alle Aspekte des Gewöhnlichen (geschweige denn des Außergewöhnlichen, wenn sich schon solches ergäbe) einzufangen und ihnen sprachliche Gestalt zu verleihen. Für das, was ich zu schreiben mir vornehme, erscheinen die schließlich gefundenen Worte und Sätze nur allzu selten als hinreichend treue Abbilder des Erlebten, Gedachten oder Empfundenen. Es ist ein Jammer. (Relating language to reality, transforming thoughts and emotions into words, phrases or - more generally - symbols: These will forever be among the hardest problems man is faced with. Is poetry a solution? Or mathematics?) Es gelingt nicht einmal, den Ablauf der äußeren Ereignisse zu fixieren. Zu anarchisch ist der Prozeß der Wahrnehmung, als daß er sich willig auf den Punkt konzentrieren ließe. Zu schnell und zu sprunghaft schweift er ab in Reflexionen, die durch mannigfache Vor-Urteile belastet sind, in unmeßbare Dimensionen jenseits von Breite, Höhe, Tiefe und Zeit. Zu stark auch ist dieWirkung der Filter des Unbewußten hinter den registrierenden Sinnen. Der Lauf der Ereignisse: das ist die Zeit. Zeit ist, wenn etwas geschieht, wenn ein Zustand sich ändert. Aber gibt es die Zeit, gibt es den Lauf der Ereignisse? So viele Dinge geschehen nebeneinander, unabhängig zwar oft, aber noch häufiger miteinander verwoben. Gibt es mithin für jeden Ort eine eigene Zeit, bestimmt durch den dort sich vollziehenden Wandel? Doch jeder lokale Wandel wirkt auch auf den umgebenden Raum und wird selbst von diesem getrieben. Und wir stehen mitten in jenem Fluß und werden, indem wir ihn beobachten oder gar zu lenken versuchen, unerbittlich von ihm mitgerissen. Eine universale Zeit kann, wenn es sie denn gibt, nur ein unentwirrbares Geflecht sein aus den unendlich vielen endlosen Strängen, ein Labyrinth, für dessen Beherrschung keine Ariadne uns ihren Faden leihen wird, und in dem wir -- selbst Teile seiner Struktur -- vergehen, ohne jemals einen Ausweg gefunden zu haben. Diese Zeit ist wie der Dschungel, in dem alles alles überwuchert und alles mit allem verschlungen ist; sie ist das Meer, dessen Tropfen die Augenblicke sind, oder vielleicht die geniale Erfindung einer unmöglichen Allmacht, die nur ihrer Lust am Spiel mit dem Werden und Vergehen von Welten Befriedigung verschafft. Das unheimlichste aller Rätsel ist die Zeit, dem menschlichen Bewußtsein für immer -- welches Wort! -- seine Lösung verweigernd, denn mit dem Rätsel verschwindet je auch der nach der Antwort Suchende, und mit diesem erst verschwindet die Frage. Vielleicht also ist es der Tod, der uns in die Nähe einer Ahnung der Lösung bringen wird, jener Übergang in die absolute Ruhe, die ein Gleichnis sein muß für das Nichtsein von Zeit. (Los laberintos que
crea el tiempo se desvanecen,
solo queda el desierto, un ondulado desierto.) Gibt es ein größeres Wunder als die Zeit, die Grund und Folge ist in einem von Sein und Bewußtsein? Und jeder ihrer kleinsten Abschnitte noch ist reich wie die Ewigkeit. Postscriptum Nur wenig (eigentlich nichts) hat der gestrige Vermerk zum Zweck dieser Aufzeichnungen beigesteuert. Daß ``jeder Abschnitt der Zeit ebenso reich sei wie die Ewigkeit'', war die Behauptung. Aber dies mag schon sein, wenn man akzeptiert (was man nicht muß), daß die Zeit ein Kontinuum ist. Denn dann ist -- vermittels einer geeigneten bijektiven Abbildung -- in der Tat kein Unterschied zwischen der Mächtigkeit der Menge der Punkte eines noch so kleinen endlichen Stücks und der Mächtigkeit des Ganzen. (Kann so jeder Abschnitt der Zeit zur Ewigkeit werden?)
Hans-Georg Stork, September 1980
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