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Reflexionen 10000 Meter über dem
brasilianischen Urwald

Wieder im Flugzeug. Wieder jenes Gefühl des Ausgeliefertseins und wieder die Einsicht in die Notwendigkeit des so schwierigen Vertrauens in die Technik des Fliegens. Zwischen Kumuli und hohen Stratosphärenschleiern bewegt sich die alte Boeing 707 mit achthundertfünfzig Kilometern pro Stunde in Richtung Nordosten. Es ist dunkel. Eben verglomm links, über der Tragfläche, deren gleichmässigem Schwingen ein gelegentliches leichtes Zittern überlagert ist, das letzte Tageslicht. Von jenseits des Horizonts und mit rasch abnehmender Intensität färbt es noch Wolkenstreifen zu einem schmaler und schmaler werdenden rötlichen Muster. Dann werden die Triebwerke vom Licht der chaotisch aufzuckenden Blitze umflackert, der Blitze des Urwalds mit seinen mäandrierenden Strömen, die in die Höhe - durch die Lücken zwischen den geladenen Wolken - noch lange selbst wie erstarrte Leuchtspuren aus der nächtlichen Schwärze des endlosen Baumlandes emporscheinen.

Um dreiviertel fünf, drei Stunden später nur als geplant, hat der grosse metallene Vogel, der - wäre er lebendig - wohl schon längst erlahmt wäre, von der Startbahn des Flughafens "Jorge Chavez'' abgehoben. Diese Reise ist jetzt fast beendet. Ihr Anfang scheint fern, viel ferner als nur vier Wochen zurück in die Vergangenheit. Wie unbedeutend dagegen mutet eine solche Zeitspanne an, wenn sie durch das gleichförmige Einerlei des Alltags gefüllt wird, wenn unsere Sinne nicht gereizt werden durch den ständigen Wechsel des Ortes, durch immer neue Begegnungen und Beobachtungen, die sich uns einfach aufdrängen und daher nicht mit Mühe erarbeitet werden müssen. Doch ist dieses Einerlei nicht nur scheinbar? Schliesslich sind nur wir selbst verantwortlich für die Leere oder Fülle unserer Zeit. Wir sind die alleinigen Herren unserer Wahrnehmung. Und wenn es deren Schärfe ist, die unser Bewusstsein vom Ablauf der Zeit prägt, so wird, wenn wir es nur können und wollen, jede Minute des Alltags zu einer langen Kette von Ereignissen und Erlebnissen.

Die Vorstellung, in wenigen Stunden wieder in Europa, in Deutschland zu sein, erscheint mir ganz unwirklich. Es ist gut, dass ich in der nächsten Woche zu neuer, vielleicht erfreulicherer Arbeit antreten werde. Natürlich wird auch dies der Beginn einer Reise sein, mit anderen und zu anderen Menschen und mit anderen Bestimmungen, das ist klar. Doch ebensowenig wie die, welche sich gerade vollendet, wird sie einem konkreten Ziel gelten. Sie wird, wie alles, was immer wir unternehmen, nur ein weiteres Teilstück sein jener infinitesimalen Tour, die uns von der Erde zur Erde führt, aus dem Nichts vor uns in das Nichts nach uns.

Das eintönige Rauschen der Triebwerke dringt in's Innere der Kabine. Unten immer noch Urwald. Hier und da ein rätselhafter Lichtwurm, ein isolierter Lichtpunkt, Indizien vielleicht verlorener menschlicher Ansiedlungen. Andere Siedlungen wird es geben, deren Bewohnern unser künstliches Licht wie Zauberei erscheinen mag. Es werden wohl Menschen dort leben, denen das Nahen eines Flugzeugs zur furchtsamen Beschwörung ihrer Götter Anlass gibt oder die gar das Produkt der Technik selbst für ein göttliches Wesen halten. Solche Menschen, die in der Welt unserer Urahnen leben, Generationen um Generationen zurück, haben wir auf dieser Reise nicht getroffen, doch sind die Existenzbedingungen, deren Zeugen wir wurden, gewiss nicht weniger unwirtlich und feindlich als die Unwetter und die wilde Fauna der Selva. War es Armut? Sind die Menschen, die in Stroh- oder Bretterhütten hausen, die eigenhändig noch den Pflug führen und keine Trennung kennen zwischen dem Wasser des Brunnens und dem der Kloake, die den unmittelbaren Bedürfnissen des Augenblicks gehorchen und ihrer Aussenwelt nur mit Angst und abergläubischem Staunen begegnen können, sind diese Menschen "arm'' zu nennen? Was ist Armut? Etwas Absolutes, durch präzise Messung Bestimmbares? Sicher nicht! Es ist der Unterschied, der einer Definition dieses Begriffs zugrundeliegen muss. (Halten wir unsere Artgenossen nicht bisweilen für arm schon dann, wenn sie nur anders denken und fühlen als wir, die wir uns den weitestmöglichen Bewusstseinshorizont einbilden?)

Da ist zum Beispiel der Unterschied, der sich im Laufe der zivilisatorischen Entwicklung zwischen verschiedenen Kultur- und Lebenskreisen in der Kunst der Herstellung und des Gebrauchs von Werkzeugen herausgebildet hat. Den in dieser Kunst Überlegenen gibt sie eine unterdrückende Macht, und dies nicht nur weil mit ihr die wirksameren Waffen verfertigt werden können. Vielmehr besteht die eigentliche, sicher weniger deutlich erkennbare Bedrohung vor allem darin, dass die besseren Werkzeuge die schlechteren entwerten, und dass der Besitz der einen schliesslich zur Enteignung, ja - schlimmer noch - zur Entwürdigung der Besitzer der anderen führen muss. Damit werden - im besten Fall - die Unterlegenen gewissermassen zu Teilen der Werkzeuge der Herrschenden degradiert, zu Kalfaktoren einer Produktionsmaschinerie, von deren Output sie selbst den geringsten Nutzen haben. (Im schlimmsten Fall gehen sie zugrunde.) Es ist dies ein Prozess, der sich vor Jahrzehnten noch mit Vehemenz innerhalb der europäischen Gesellschaften vollzog, der aber - seit der ersten Berührung der abendländischen "Eroberer'' mit den Völkern Asiens, Afrikas und Amerikas - immer schon auch globale Dimensionen hatte.

Nun ist der Begriff "Werkzeug'' keineswegs eng auf die handhabbare Vorrichtung bezogen, sondern durchaus in einem umfassenden, allgemeinen Sinn zu verstehen. Denn noch entscheidender (weil grundlegender) sind gewiss unsere mentalen Instrumente: Sprache, Symbolik und die abstrakten Denkmodelle, mit deren Hilfe wir das Aussen, die "Wirklichkeit'' zu erfassen versuchen. (Erfahren wir doch in fast jedem Gespräch, wie sehr uns die Fertigkeit oder Unfertigkeit im Gebrauch der Sprache Macht oder Ohnmacht verspüren lassen, die eigene oder die des jeweiligen Gegenüber. Und bei solcher Gelegenheit mag es auch geschehen, dass wir mit Geringschätzung feststellen, in wie schwach ausgefeilte, grobe und unbeholfene Formen sich ein Anderer jenes Material giesst, aus dem auch wir unser Realitätsgebäude (unsere Welt?) errichten. Und natürlich haben wir die Tendenz, unsere Vorstellung von dem, was "wirklich'' sei, dem Anderen aufzuzwingen.)

Ist nicht die Effizienz des Werkzeuggebrauchs in diesem allgemeineren Sinne, der Grad also der Verwendbarkeit unserer Ideen von der Aussenwelt (unserer "Theorien'') für die Gestaltung und Verfügbarmachung eben dieser Aussenwelt (für die "Praxis'' im Umgang mit der "objektiven'' Wirklichkeit) ein plausibles Mass für den Fortschritt der Evolution von Zivilisationen? Es scheint das Prinzip zu sein, in welches "die Natur'' jenes bis zur Dämmerung des Bewusstseins gültige Gesetz vom "survival of the fittest'' übersetzt hat.

Lässt sich, ausgehend von diesen Prämissen, definieren was es heisst, ein Gemeinwesen sei "arm''? Vielleicht. Es wäre sicher falsch zu behaupten, es sei arm, wenn es nur - im Vergleich zu anderen organisierten Menschengruppen - über die weniger effizienten Werkzeuge, konkrete wie abstrakte, verfügt. Solange es hinreichend isoliert bleibt, mag es mit seinen eigenen Mitteln - und seien diese auch noch so unzulänglich - "sich selbst genug sein'' und - sofern die natürlichen Umstände es erlauben - eine Organisation erreichen, die eine Befriedigung der materiellen und immateriellen Lebensbedürfnisse der meisten seiner Mitglieder ermöglicht. In dem Masse freilich, in dem ein solches Gemeinwesen dem Einfluss anderer, im "Werkzeuggebrauch'' fortgeschrittenerer Gesellschaften ausgesetzt ist, wächst der Druck zur Veränderung der Normen und Verhaltensmuster, die es regieren. Und nicht selten erreicht dieser Druck die Stärke vernichtender Gewalt  - nicht anders als zu Zeiten vor jener Dämmerung des Bewußtseins.

Viele Länder der sogenannten "Dritten Welt'' sind Kampfstätten, in denen dieser Gegensatz auf zwei verschiedenen Ebenen und auf beiden in verschärfter Form ausgetragen wird: innerhalb dieser Länder einerseits und zwischen ihnen und den "hochentwickelten'' Industrieländern andererseits.

(Es scheint nicht vermessen zu behaupten, dass dies ein Problem ist, von dessen Bewältigung das zukünftige Schicksal der Menschheit als Ganzes abhängt. Ein die Zuversicht in positive Veränderungen stärkender Lösungsansatz ist vielleicht (vielleicht!) im modernen China versucht worden. Dort und anderswo jedoch hat es - angesichts des komplexen Miteinanders und Gegeneinanders der das System einer menschlichen Gesellschaft bestimmenden konkurrierenden Prozesse - keine gerade Linie eines Lösungsweges gegeben, noch wird es je eine geben.)

September 1980, Hans-Georg Stork
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